Interesse an Kulturtipps? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter:

Jetzt anmelden! | Bisherige Ausgaben

Anatevka oder das Ende einer Ära

06. Dezember 2024

Eine Ära geht zu Ende, aber nicht sang- und klanglos, sondern mit einem furiosen Finale. Nach 20 Jahren haben die beiden künstlerischen Leiterinnen des Jugendchor-Projekts Reichelsheim, Andrea Dippon-Meyer und Andrea Priemer, beschlossen, aufzuhören. Doch bevor es so weit ist, wollen sie zum Abschluss noch einmal eine große Inszenierung auf die Bühne bringen. Bei der Auswahl des Stücks sind sie zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt, damit sich der Kreis schließt. Als allererstes Werk hatten sie im Jahr 2000 Mozarts „Zauberflöte“ in einer Adaption für Kinder mit dem Jugendchor einstudiert; 2002 stand dann das Musical „Anatevka“ auf dem Programm, und „Anatevka“ wird 20 Jahre später auch den Reigen der Bühnenproduktionen von Andrea Dippon-Meyer und Andrea Priemer beschließen.

Die Premiere hatte ursprünglich im September dieses Jahres stattfinden sollen, da aber aufgrund von Corona im Frühjahr viele Proben ausfallen mussten, wurde sie zunächst auf den 21. Januar und jetzt kurzfristig noch einmal auf den 10. Juni 2022 verschoben. Aber bereits jetzt laufen die Dreharbeiten zu einigen Szenen aus dem Musical, denn es ist geplant, Teile der Handlung auf der Bühne filmisch einzuspielen. Der Chor spielt bei „Anatevka“ eine große Rolle: In der Reichelsheimer Inszenierung besteht er aus 60 Mitgliedern, darunter auch ehemalige Sängerinnen und Sänger, die mittlerweile erwachsen und aus dem Jugendchor ausgeschieden sind, aber bei dieser Inszenierung gerne wieder mitmachen wollen. Eine zehnköpfige Band sowie rund 60 ehrenamtliche Helfer, die dafür sorgen, dass auch hinter den Kulissen alles reibungslos klappt, gehören ebenso zum Ensemble. Und für die Rolle des Milchmanns Tevje, der zentralen Figur in „Anatevka“, wurde der Violinist, Dirigent und Musikproduzent Michael Davis engagiert.

„Anatevka – was wie ein zärtliches Kosewort für ein kleines Mädchen klingt, ist in Wahrheit der Name eines westrussischen Dorfs, oder genauer: eines osteuropäischen Schtetls, dessen jüdische Bewohner in permanenter Bedrohung durch die russische Mehrheitsgesellschaft leben und immer damit rechnen müssen, Opfer eines Pogroms und vertrieben zu werden. Für ein Broadway-Musical der 1960er Jahre ein gewagter Stoff – und dennoch wurde „Anatevka“ (Buch: Joseph Stein, Musik: Jerry Bock) zu einem Welterfolg. „Wenn ich einmal reich wär‘“ – der Tagtraum des armen Milchmanns Tevje zählt bis heute zu den bekanntesten Musical-Schlagern überhaupt. Angesiedelt ist „Anatevka“ im Jahr 1905 – und doch lassen sich viele Bezüge zur Gegenwart erkennen. Flucht, Vertreibung, „ethnische Säuberungen“ sind bis heute das Schicksal vieler Menschen an zahlreichen Orten auf dieser Welt geblieben, leider muss auch der Antisemitismus weiterhin als aktuelle Bedrohung jüdischen Lebens gelten, wohin man auch schaut. Aber auch das zentrale Thema des Musicals – der Widerspruch zwischen den Normen der Tradition und dem Anspruch auf individuelle Freiheit – wirkt keineswegs angestaubt. Traditionen, das muss auch Tevje lernen, halten sich nur am Leben, indem man sie mitunter durchbricht und erneuert.