Überleben - kein Kinderspiel
08. Oktober 2024Es müssen erschütternde Abschiedsszenen gewesen sein. Sie durften daher nicht im Bahnhofsgebäude stattfinden, sondern davor, draußen, im Abseits. Das hatten die nationalsozialistischen Machthaber verfügt, im Gegenzug zu ihrer Einwilligung in die Ausreise jüdischer Kinder aus Deutschland. Zwischen 1938 und 1940 konnten auf diesem Wege 20.000 Kinder aus jüdischen Familien gerettet werden. Neben der so genannten Jugend-Aliyah, der von der Berliner Rabbinerfrau Recha Freier organisierten Auswanderung von Kindern und Jugendlichen nach Palästina, sind die sogenannten „Kindertransporte“ die zweite großangelegte Rettungsaktion, der viele jüdische Jungen und Mädchen ihr Leben verdankten. Jüdische Wohlfahrtseinrichtungen versuchten auf diesem Wege, so viele Kinder wie möglich in Sicherheit zu bringen. Die Warteliste war lang, nicht allen Familien bot sich diese Chance. Großbritannien nahm die meisten Kinder – etwa 10.000 – auf, andere Zielländer der Kindertransporte waren die Schweiz, Belgien, die USA und die Niederlande.
Für den Südwesten Deutschlands war der Frankfurter Hauptbahnhof der zentrale Ausreisesammelpunkt. Das hat das „Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt“ zum Anlass genommen, sich für die Errichtung eines Mahnmals, mit dem der Kindertransporte gedacht werden soll, einzusetzen. Mit Erfolg. Im Frühjahr 2021 soll das Mahnmal in der Nähe des Hauptbahnhofs errichtet werden. Den Wettbewerb für seine Gestaltung hat die in Berlin und Tel Aviv lebende Künstlerin Yael Bartan gewonnen. Ihr Entwurf ist ein aus schwarzem Stahl und Lärchenholz geschaffenes Kinderkarussell, ganz ähnlich dem Modell, wie es in den 1920er und -30er Jahren auf Spielplätzen in Europa sehr beliebt war. Eingeschrieben in das Karussell sind die Abschiedsworte der Kinder: „Auf Wiedersehen, Mutter“, „Auf Wiedersehen, Vater“ und der letzte Gruß der Eltern: „Auf bald, mein Kind!“ – von den meisten wahrscheinlich in dem bangen Wissen ausgesprochen, dass dieser Abschied endgültig sein würde. Denn die Kinder fuhren nach London, Amsterdam und Brüssel, viele der Eltern wurden in die Vernichtungslager deportiert.
Daran erinnert dieses bespielbare, fahrtüchtige Karussell auf ebenso einfache wie ergreifende Weise. Es dreht sich, wie das Schicksalsrad, die Plätze sind begrenzt, nicht alle können mitfahren, und es macht noch einmal deutlich, dass es wirklich Kinder waren, die der familiären Geborgenheit entrissen, künftig auf sich gestellt sein würden. Überleben – kein Kinderspiel.